Das Wichtigste vorweg: Die Digitalisierung in deutschen Unternehmen kommt nur langsam voran. Laut Bitkom sehen sich 64 % der Unternehmen als „digitale Nachzügler“. Die größten Hürden sind nicht – wie oft vermutet – das Alter der Belegschaft, sondern Zeitmangel, finanzielle Aufwände und fehlende Akzeptanz. Studien und unsere Interviews mit Experten (Fraunhofer IAO, Uni Köln) geben dabei eine Richtung vor: Erfolgreiche Digitalisierungsprojekte setzen auf klare Führung durch die Geschäftsführung, eine offene Kommunikationskultur und den gezielten Einsatz von „Technologie-Enthusiasten“ als Multiplikatoren im Team.
Dass die Digitalisierung in Deutschland nur schleppend vorankommt, ist Konsens in der öffentlichen Diskussion – obwohl viele Unternehmen intensiv an ihrer Transformation arbeiten. Insgesamt hinkt das Land im internationalen Vergleich aber hinterher. Liegt das etwa an der Alterung der Belegschaften, weil sich „Boomer“ gegen neue Technologien wehren? Wir haben Erfolgskriterien der Digitalisierung mit Experten diskutiert. Ihre Antworten sind rundum interessant.
Wie schnell „digitalisieren“ sich deutsche Unternehmen? Die kurze Antwortet lautet: eher langsam. Zumindest ergab das eine Befragung von über 600 Unternehmen durch den Digitalverband Bitkom.
Demnach sehen sich immerhin 64 Prozent als „digitale Nachzügler“ – und einer ähnlich großen Mehrheit fällt es schwer, digitale Geschäftsmodelle für ihren Markt zu entwickeln. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil immerhin 52 Prozent die Zeichen der Zeit erkannt haben. Sie sagen: „Wettbewerber aus unserer Branche, die frühzeitig auf Digitalisierung gesetzt haben, sind uns voraus.“
Gleichzeitig kämpfen Unternehmen aktuell mit einem ganzen Bündel von Problemen, die man nach Einschätzung von Experten mit digitalisierten Prozessen verkleinern kann – von der wachsenden Bürokratie über hohe Energiekosten bis zum Mangel an Fachkräften. Das letztgenannte demographische Dauerproblem ist bei immerhin 66 Prozent der Mittelständler ein zentrales Thema, wie eine Studie der DZ Bank ergab. Und: Der Renteneintritt von über 20 Millionen „Boomern“ bis 2035 verkompliziert die Lage enorm.
Interessanterweise sagen dabei viele Experten, dass digitale Prozesse und Automatisierungen nicht die Fachkräfte ersetzen, wie man vielleicht vermuten würde. Stattdessen werden die Menschen produktiver. So kommt etwa die Untersuchung „Der digitale Faktor“ von IW Consult zum Ergebnis, das Arbeitnehmer bis zu 100 Stunden Arbeitszeit pro Jahr durch den Einsatz von generativer KI einsparen könnten – Unproduktives wird an digitale Systeme ausgelagert. Man leistet also mit der gleichen Zahl von Menschen mehr, was die eine oder andere (erfolglose) Stellenanzeige überflüssig machen dürfte …
Aber warum kommt die Digitalisierung der deutschen Unternehmen nicht schneller in Fahrt, wenn positive Effekte auf der Hand liegen? Hierzu ermittelte die Deutsche Industrie und Handelskammer in einer Studie, dass Zeitmangel und der finanzielle Aufwand die Entwicklung bremsen. Außerdem interessant: Bei immerhin rund einem Drittel der Unternehmen fehlt die Akzeptanz.
Letzteres ist ein oft gehörtes Argument im Gespräch mit Verantwortlichen: „Unsere Leute wehren sich, weil hergebrachte Prozesse gut funktionieren. Sie wollen nicht auf Zettel und Stift verzichten.“ Das Zitat klingt übertrieben? Nun ja: Immerhin 82 Prozent der deutschen Unternehmen nutzen zum Beispiel noch Faxgeräte, wie bitkom-research ermittelt hat. Der „Papierkrieg“ der Vergangenheit geht also munter weiter.
Im Übrigen liegt die Frage auf der Hand, ob älter werdende Belegschaften ein Teil des Problems sind: Stellen sich über 50-Jährige dem Wandel entgegen – skeptisch und altersmüde angesichts disruptiver Veränderungen? Jemand, der darauf Antworten geben kann, ist Patrick Vestner.
Als Doktorand am Department Corporate Development der Uni Köln hat er zusammen mit Kilian Hampel von der Uni Konstanz rund 300 Mitarbeiter eines Finanzinstituts befragt. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie gut „altersdiverse“ Teams bei der Digitalisierung zusammenarbeiten – eine interessante Erkenntnis der Studie: Das Alter spielt keine besonders große Rolle. Vielmehr kommt es auf die Grundhaltung der Beteiligten an.
Patrick Vestner: Auf die Einstellung der Mitarbeitenden kommt es an. Wir nennen diesen Effekt „Technologie-Enthusiasmus“ – also eine grundsätzliche Offenheit gegenüber digitalen Tools. Im Idealfall haben Menschen keine Berührungsängste und sind bereit, etwas Neues auszuprobieren. Für Unternehmen ist hierbei wichtig, dass diese Haltung ansteckend wirkt. Wenn also einzelne positiv eingestellt sind, steigt auch die Bereitschaft der anderen in ihrem Team, etwas Neues zu lernen.
Patrick Vestner: Nein, nicht zwingend. Wichtiger als das Alter ist die Erfahrung mit Technologie. Wer also in der Vergangenheit erfolgreich mit Software gearbeitet hat, ist auch eher bereit, sich mit neuen Lösungen zu beschäftigen. Übrigens nützt es hierbei nichts, wenn Sie mit TikTok aufgewachsen sind. Zum Beispiel für das Erlernen eines ERP-Systems bringt das keine Vorteile. Da punktet eher der langjährige Excel-User.
Patrick Vestner: Die Wissenschaft ist hier eindeutig: Es gibt keine signifikanten Unterschiede in der Lernfähigkeit zwischen Jüngeren und Älteren. Unterschiede finden wir eher in der Art des Lernens. Jüngere lernen explorativ, probieren Neues aus. Ältere knüpfen stärker an bestehendes Wissen an und vertiefen es. Im Endergebnis schneiden beide Gruppen ähnlich ab.
Patrick Vestner: Unsere Studie hat gezeigt, dass klassische Trainings wenig Effekt hatten. Wirklich wirksam wurde es erst, wenn Kolleginnen oder Kollegen mit einer positiven Tech-Haltung im Spiel sind. Unternehmen sollten also stärker auf diese soziale Komponente achten und „Role Models“ einsetzen. Offenheit ist am Ende erlernbar und steckt an – und sie verbreitet sich im Miteinander schneller als jedes Training.
Bleibt am Ende ein Blick auf allgemeine Grundvoraussetzungen auf Seiten der Organisation: Unter welchen unternehmerischen Bedingungen gelingt der Prozess?
Eine Fülle von Hinweisen gibt in diesem Zusammenhang die Studie „Erfolgskriterien betrieblicher Digitalisierung“ des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Die Spezialisten befragten unterschiedliche Mittelständler. Das Ganze ist nicht ohne Überraschung, wie ein Gespräch mit Claudia Ricci vom Fraunhofer-Institut deutlich macht. Sie war Mitautorin der Studie.
Claudia Ricci: Es gibt äußere und innere Faktoren – von neuen Wettbewerbsbedingungen bis zu einer veränderten strategischen Ausrichtung. In jedem Fall ist aber die Rolle der Geschäftsführung wichtig, denn gerade im Mittelstand geht die Initiative oft von dort aus. Führung ist eine Voraussetzung, um Veränderung zu ermöglichen.
Claudia Ricci: Die Diskussion um Kosten ist wichtig, aber häufig fehlt zunächst einmal die Zeit und das Personal. Man hat also nicht die Kapazität, sich mit grundlegenden Zukunftsthemen zu beschäftigen. Im Übrigen sehen wir: Wenn Digitalisierung zu mehr Produktivität führt, tritt die Kostendiskussion in den Hintergrund.
Claudia Ricci: Zunächst einmal erzeugt die Digitalisierung – wie jede Transformation – auch Widerstände. Zum Beispiel erleben manche Mitarbeitende die Einführung eines Monitoring-Systems, das die eigene Produktivität erfasst, als Bedrohung. Deshalb muss man das Ganze erklären – aber nicht nur einmal! Alle Veränderungen sollte man dauerhaft begleiten und immer wieder einordnen. Man muss Mitarbeitende aktiv einbinden.
Claudia Ricci: Wir haben für unsere Studie sowohl Unternehmen mit klassischen Hierarchien als auch welche mit sehr flachen Strukturen befragt – in beiden kann Digitalisierung gelingen, wenn man den Prozess dauerhaft beobachtet und sich fragt: Was brauchen wir an welcher Stelle und wie können wir uns weiterentwickeln? Außerdem sollte man den Mut haben, neue Strukturen auszuprobieren. Jede Transformation ist ein lernender Prozess.
Claudia Ricci: Wo nicht kommuniziert wird, wo Kultur und Führung fehlen – da entstehen Probleme. Übrigens sehen wir gerade bei einer neuen Untersuchung, dass Synergieeffekte beim Gelingen eine Rolle spielen: Wer bei einem anderen Transformationsprozess bereits gute Formate entwickelt hat, kann diese auch für die Digitalisierung nutzen.
Claudia Ricci: Dazu verweise ich auf ein Beispiel von einem Unternehmen aus der Pflegebranche. Dort war der Generationenmix eine Herausforderung: Jüngere Mitarbeitende kamen mit neuen Tools sofort zurecht, ältere taten sich schwer. Das Unternehmen führte ein Reverse-Mentoring-Programm ein – Jüngere erklärten digitale Systeme und beide lernten voneinander. Das hat hervorragend funktioniert. Es geht also darum, alle mitzunehmen – auch wenn es bedeutet, dass manche Schritte etwas länger dauern.
Ob und wie schnell Organisationen ihre Prozesse digitalisieren – das hat kaum etwas mit dem Alter der Mitarbeiter oder der Personalstruktur zu tun. Im Gegenteil: Unternehmen können von einer diversen Belegschaft profitieren: Ältere bringen ihr Erfahrungswissen ein, Jüngere punkten mit Leichtigkeit beim Erlernen der Tools. In jedem Fall sind „Technologie-Enthusiasten“ hilfreich, weil sie das ganze Team „anstecken“ und so die Motivation steigern.
Darüber hinaus bleibt Führung wichtig, denn Entscheider müssen vorangehen und dabei die Veränderungsprozesse erklären. Überhaupt sollte das Unternehmen „auf Augenhöhe“ kommunizieren, so etwa die Einschätzung von Claudia Ricci. Änderungsvorschläge und Ideen aus der Belegschaft sind also hochwillkommen (was in der Kommunikation wiederholt betont wird). In gewisser Weise ist die Digitalisierung ein soziales Projekt – Menschen agieren miteinander und verständigen sich auf neue Prozesse. Im Rahmen eines intensiven Austauschs erarbeiten sie neue Strukturen und passen das Ganze iterativ an. Am Ende bringt vielleicht ein Song der Beatles die Aufgabe perfekt auf den Punkt: „All together now.“